ZU VIEL AWAREN‑EIS

 

 

Lord Brikett, der Brennstoffhändler, war einem stark nachgedunkelten Por­trät van Dycks entstiegen und beabsichtigte jetzt, in Detroit oder Salt Lake City den Golem zu markieren. Kaum hatte er die Bar am Union Square be­treten, die fast ausschließlich von Angehörigen der Fremdenlegion besucht wird, zu dieser Tageszeit aber mäßig frequentiert war, am Ausschank ein Glas Bier bestellt und eine Nikotin‑Reliquie geräuchert, um auf diese Weise den feinen Herrn zu spielen, als er schon bemerken mußte, daß er wie so oft die Rechnung ohne die Wirtin gemacht hatte ‑ und das im wörtlichen Sinne. Eine Wolke aus dichtem Kanzlei‑Opium vor sich hin paffend erwartete er mit kühner Miene das Näherkommen der ziemlich resoluten Kellnerin, die schon zuvor hinter der Kaffeemaschine bedrohlich gestikuliert hatte, eine höchst orthodoxe Irokesen‑Frisur ihr Eigen nannte und Nana La Eden hieß. (Im engeren Freundeskreis rief man sie Lady Jane und achtete sie ob ihrer Strenge.) Mit schnarrendem Ton begehrte nun Lady Jane sofortige Beglei­chung der Rechnung. Lord Brikett hoffte, noch in letzter Sekunde einen Smaragd aus der Nietenhose ziehen zu können und derart der Forderung der penetranten Dame Genüge zu tun, aber nichts da. Schon gar nicht verfügte er über eine dieser neumodischen Scheck‑ oder Kreditkarten, die solventen Kapazitäten jegliche Tür öffnen und der Wunscherfüllung so dienlich sind ‑ und erst recht mangelte es ihm an Bargeld. Sekunden später fühlte der Lord sich von vier kräftigen Armen ergriffen, welche den Herren Kant und Ingres gehörten, die ihn dergestalt an Fluchtversuchen vorsorglich hinderten. Sogar den magischen Talisman, einen Büchsenöffner aus dem Rokoko, den der Lord stets in seiner Rocktasche trug, jagten die beiden ihm ab. Für Nana war das ein schwacher Trost, denn sie verkannte den Marktwert dieses Objekts, das in der Pfandleihanstalt Concordia zumindest fünfzig Dollar eingebracht hätte. "Mit dir werd ich Schlitten fahren, du verlauster Gnom", heulte ihr überschäumender Mezzo‑Sopran. Der Lord hatte noch eben erwogen, gegen die unerwartete Gewaltanwendung seitens unbeteiligter Dritter zu prote­stieren oder mindestens eine Erklärung abzugeben, aber schon hatte man ihm einen enganliegenden Granaten‑Frack übergestreift, der fast an einen Sarkophag erinnerte. "So jetzt gehts ab zum Trampolin‑Springen", säuselte der Muskulöse mit dem goldenen Helm, der von Nana Monsieur Ingres genannt wurde. Des Lords Veto scheiterte in diesem Augenblick maßgeblich an dem Umstand, daß er sich mittels mehrerer Essig‑Gurken geknebelt fand und unverzüglich in das Hinterzimmer verbracht wurde, das nur von einer dürftigen low‑Watt‑bulb erhellt wurde. Kant, der finstere Geselle im hardedge‑Overall, monokelbewehrt und total unrasiert, der die ganze Zeit nur in einem fragwürdigen Geheimcode sprach, der nichts Gutes ahnen ließ, murmelte jetzt: "Schleppen wir ihn zu Zement‑Otto oder geht die Post gleich ab... lassen wir ihn übers Moor wandern... durch die Falltür... oder Du ziehst ihm eins über mit dem Pleuel, das ich aus den Uffizien geklaut hab, oder wars in der Eremitage?" ‑ Nana kicherte im Hintergrund unsinnig, ihre Laune hatte sich abrupt gebessert. "Ein bißchen Pietät kannstu schon walten lassen, du alter Dobermann... Hinterlist schadet fast nie... Wir liefern ihn vielleicht doch der Uran‑Liga aus, die zahlen besser und vor allem prompt... das Formaldehyd‑Bad kommt dann allemal noch rechtzeitig." Jetzt begann das frivole Trio noch uralte Prosektur‑Witze zu reißen, durchwegs practical jokes, die kein Auge trocken ließen. ("Ach injizier doch ein paar Centiliter von dem Nitro‑Serum... nein lieber eine Eiswürfel‑Kur, subcutan, oder den gemeinen Tintling in gepufferter Lösung...") Der Lord konnte von Glück reden, daß eine spontane Ohnmacht ihn überkam. Ihm war nur zu klar, daß sein Leben keine Rupie mehr wert war. Der Deal mit EI Grecos "Tempelreinigung" würde kaum mehr über die Bühne gehen... Angesichts der Ohnmacht ihres Klienten vergnügten sich die drei Peiniger jetzt an einer improvisierten Tarock‑Partie. ("Nur noch den Konterpagat und den Mond gefangen... alles eingefärbt... ich rufe die 19", so tönte es andauernd, unbemerkt von dem Lord, der mit kaum merklicher Atmung in dem Granaten-Frack verharrte.) Erst nach anderthalb Stunden widmete sich das Trio abermals der reglosen Person: "Meine Fresse, der Typ ist scheintot, da kann kein Zweifel sein... ich hab gewiß genug Scheintote gesehen und kann das prima beurteilen... das kataleptische Syndrom, wie es jedem Medizinalrat bestens bekannt ist, mit allen typischen Ausprägungen... mal sehen, ob der Spiegel beschlägt", murmelte Kant, dessen Spitzbart in der Brise pendelte, welche von dem Ventilator erzeugt wurde, der unter der Decke rotierte. "So ein Schwachsinn", entgegnete Nana unwirsch. "Du vergißt, daß ich zwei Jahre lang OP‑Schwester im Memorial Hospital von Arkansas war, wo ich dem berühmten Doc Tantalus assistiert hab bei den riskantesten Thorax‑Transplantationen... Ich glaub, er kollabiert... schnell eine Prise Kampfer... oder noch besser: Reich mir mal den Augenbrauenstift herüber!" Mit diesen alarmierenden und zugleich bestürzenden Worten begann sie halbherzige Wiederbelebungsversuche, wie sie im apokryphen Appendix des Handbuchs der Reanimation beschrieben sind. Die Wirkung war erstaunlich: Als sie den Lord mit einem frisch gespitzten Bleistift zwischen die Rippen piekte, kam derselbe jäh zu sich und stieß einen Fluch aus, der so gotteslästerlich war, daß Nana, die in einem Methodistenkloster aufgewachsen war, sich verstört abwenden mußte.

An dieser Stelle seines jede Nacht wiederkehrenden Alptraums erwachte der Brennstoffhändler, der ein weitschichtiger Verwandter der Barone von Baskerville war. Ächzend entledigte er sich des klatschnassen Schlafanzugs, an welchem das Familienwappen appliziert war: ein silberner Schürhaken vor yadegrünem Grund, und wankte in die Küche seines bescheidenen Eigenheims, wo in der folgenden Viertelstunde eine vehemente Plünderung des Kühlschranks stattfand, der schon längst eine gründliche Abtauung vertragen hätte. "Zu viel Awaren‑Eis", knurrte der Lord. "Zu viel Awaren-Eis." ‑ Und damit ließ er es vorerst bewenden.

 

                                                    Gerhard Hanak