Gerhard Hanak  

     

ist es das?

 

Prince of Wales Tea... a blend of carefully selected Keemun black

teas... used in the days of the Imperial Tang Dynasty. Anständig bleiben

in einer verführerischen Welt? Oder doch lieber verführerisch bleiben in

einer anständigen Welt? Unschuldige Vergnügungen, zurückgezogenes

Teetrinken, Fortnum & Mason: Das imaginäre

Ich spiegelt sich in der Tasse, im silbrigen Tablett und Tantalus fand

sich dergestalt umstellt von Spiegelbildern, die er kaum als solche

(v)erkennen konnte. Und schließlich: Verabredungen im Cafe des Millenium-Tower,

 saturnischer Einfluss, Erzählungen über Floßfahrten auf der Drau, nicht in der

modischen Art der Extremsportarten, Wildwasser-Rafting und Canyoning,

sondern eher als Beschwörung von Hypo Alpe Adria Brauchtum, in ländlicher

Tracht. Häuser mit auskragenden Fassaden. Der Verzehr von Martini-Gänsen in Brno.

Die raffinierte Ästhetik der Raffinerien, der Rohrleitungen, der Kugeltanks, zum Beispiel

 in Schwechat, und überhaupt: von Tankwagen und kilometerlangen Raumschiffen,

von allen silbrig glänzenden zylindrischen Objekten.

 

Der Löschteich bei der Remise Hetzendorf: Ein russischer Kernphysiker hatte

dort den Tod gefunden, nachdem er davor noch sein bordeauxrotes Sakko

an einen Zaunpfahl in unmittelbarer Nähe gehängt hatte... Trotz

niedrigstem Wasserstand, kaum 40 Zentimeter, war er augenscheinlich

ertrunken. Ein mysteriöser Vorfall... ging es um eine Geheimformel, die

dem Mann abgejagt worden war oder um Verwirrungszustände und eine fatale

Verkettung extrem unwahrscheinlicher Ereignisse... Die Übergabe der

Mikrofilme sollte wohl in der entlegenen Straßenbahnremise, ohne

jegliche Zeugen stattfinden, aber dazu kam es nicht mehr... örtliche und

zeitliche Desorientierung, nachdem der Kernphysiker zunächst noch am

Praterstern gesehen worden war, wo ihn Polizisten in eine Straßenbahn

verfrachtet hatten, sofern es nicht verkleidete Agenten der Gegenseite

waren, schon im Flugzeug aus Leningrad oder St. Petersburg hatte er, wie

Zeugen zu berichten wußten, schon mehrere Biere getrunken, ansonsten

galt er in akademischen Kreisen als seriöser Wissenschafter, der immer

wieder zu Kongressen eingeladen wurde... Die Mitarbeiter der

Nachrichtendienste agierten verschiedentlich als Straßenbahner getarnt,

besonders wenn es sich um Operationen handelte, die in der Sphäre der

Wiener Linien durchgeführt wurden oder bei denen Remisen als tote

Briefkästen fungierten.

 

Bordeauxfarbene Sakkos & die ständige oder zumindest wiederkehrende

Befürchtung, aufgrund dieses Kleidungsstücks für einen Mitarbeiter der

Wiener Linien gehalten zu werden ... eine fatale Verwechslung... und die

Leute in der Brynner Straße würden ausnahmslos denken: Ein Straßenbahner ist er also,

 wer hätte das gedacht, und andere würden erwidern: das hätten sie immer

schon gewußt oder mindestens geahnt - dabei handelte es sich um ein

WIENER LINIEN-Projekt von ganz anderem Zuschnitt, eine Rauminstallation

quer durch die ganze Stadt... querende Linien, welche die Knotenschrift

der Inkas imitieren... zum Beispiel die Linien D und 5, deren

Schnittmenge in gewisser Weise der Julius Tandler-Platz am Alsergrund ist...

Himbeer Zitron war in diesen Tagen geeignet für ziemlichen Durst, wie er sich

nach dem Volleyball-Spiel einzustellen pflegt, vor allem bei zaun-dürren

jungen Frauen, im Cafe des Millenium-Tower, dort möcht ich nicht

begraben sein - aber die Wahrscheinlichkeit war ohnedies gering, zumal

Mausoleen & Grüfte in diesem die Skyline prägenden Bauwerk nicht

vorgesehen waren. (Jedoch: Das Mausoleum der Gräfin Montleart, nächst

der Aral-Tankstelle samt Pizzeria... verwitterte Grabsteine zwischen

Zapfsäulen und flackernden Leuchtreklamen von Wettsalons.) Die optische

Werkstätte in der Nußdorfer Straße, unweit vom Cafe Hitchcock

& der überaus konkrete Plan nächstens dort anzufragen, ob auch Periskope

 erzeugt bzw. auf Wunsch angefertigt würden, in der Absicht,

auf diesem Weg die Bronedersche Villa in Mauer auszukundschaften, sich

einen Ein- oder auch: Überblick über das Grundstück und die dortigen

Vorkommnisse zu verschaffen... die meiste Zeit lag das baufällig

wirkende Haus öd und verlassen, aber gelegentlich konnten doch

Beobachtungen gemacht werden, welche auf die Anwesenheit von Personen

schließen ließen... offenstehende Fenster...

 

 Geräusche & Lichtschein im oberen Stockwerk... geländegängige

Fahrzeuge, die vor dem Anwesen parkten... der vormals junge Herr,

 der noch in den späten 50-er-Jahren den schwarzen Vorkriegs-Mercedes

seiner betuchten Eltern chauffierte, mit dem markanten Reserverad,

 an das ich mich noch bestens erinnern kann, hatte dann nach und nach

Teile des weitläufigen Grundstücks verkauft und vom Erlös seinen

extravaganten Lebensstil finanziert... in unmittelbarer  Nachbarschaft zur Villa

Broneder hauste damals ein gewisser Waldhäusl, ein leicht verwahrloster, ständig

unrasierter älterer Herr, der in den Abendstunden wankend in der Mitte der Fahrbahn

und mit zertepschtem Hut aus dem nahegelegenen Gasthaus heimkehrte & mitunter

Passanten mit 5-Schilling-Münzen beschenkte & wie ich einmal selber unverhofft

Nutznießer solcher Großzügigkeit wurde, wir haben damals Chabesade getrunken

oder auch Schartner Bombe  &  auf den Straßen fuhr dann und wann ein Simca oder Borgward

 

& wie Andrea Jahrzehnte später unweit vom Meidlinger Markt die gerade stattfindende

Sonnenfinsternis kommentiert hatte ... Pinkafeld befand sich in der

Totalitätszone, ein idealer Standort für astronomische Beobachtungen,

wie auch Cornwall, wo Hunderte das Ereignis in Booten vor der Küste

betrachten wollten... die sichelförmigen Schatten des Laubs und das

schwarze gehörig geschlitzte Kleid gibt im Dämmerschein den Blick auf

Andreas bleiche Oberschenkel frei & in Pinkafeld wurden angeblich auch

schwarze Messen gefeiert und es gab eine Serie von Selbstmorden von

Jugendlichen, die durch Okkultismus und Satanskult bedingt waren,

zumindest wurde solches geraunt & in der Sendung Autofahrer Unterwegs

ertönten immer die Glocken einer x-beliebigen Pfarrkirche, zum Beispiel

Sankt Radegund, Trofaiach, Greifenburg, Greifenstein, Arbesbach oder

Geboltskirchen und es wurde übertragen aus dem großen Sendesaal des AEZ.

 

und Paul Lösekrug, der ältliche Studienrat, Musikprofessor

mit lindgrün-pomadisiertem Haar, ein Sonderling, der die

Abende bei Aquavit und Lachs zu verbringen pflegte, in Partituren

blätternd und imaginäre Taktstöcke (oder auch ganz reale Taktstock-Äquivalente)

mit sparsamsten Bewegungen schwingend oder solches nur andeutend, bei den Klängen

von MC5: "Starship"... oder noch besser: “The Solar System Bleeding”.

Seine Leidenschaft galt erklärtermaßen den Opern Salieries und - in geringerem

Ausmaß - den Meisterwerken der seriellen Musik, doch um sich bei den

Schülern anzubiedern, täuschte er ein Interesse für MC5, die Edgar

Broughton Band, Pete Townshend und horribile dictu: sogar die Spice Girls vor, mehr oder

minder glaubhaft und zeitweise in klebriger Zudringlichkeit, was nicht

ganz verborgen bleiben konnte... und er konnte sich nicht genug wundern, wenn

seine beiden Neffen ihn "Fax" nannten, besonders wenn er seinen blauen

Rock trug... zuletzt hatte er sogar Cargo-Hosen, mit mehreren

aufgenähten Taschen oder extraweite Skaterhosen, Marke Fishbone

angeschafft, so wie auch ein ODIN STATT JESUS T-Shirt

und hoffte damit einen gewissen überaus muskulösen Tork zu

beeindrucken, was aber nicht wunschgemäß oder nur mit Abstrichen

gelungen war, weil der sich vor allem für Motorräder & Motorsport &

natürlich MC5 interessierte. Und immer wieder: Aquavit zwecks Betäubung

und um sich über die ständigen Klagen seiner Haushälterin

hinwegzutrösten, weil die Kissenbezüge schon wieder grünlich durchfettet

waren und mittlerweile zweimal wöchentlich gewechselt werden mußten. Und

während diese an sich reizlose, jedoch überaus resolute Person

quengelte, suchte Paul L. wieder einmal vergeblich nach den Dias, die er

vor Jahrzehnten, anläßlich eines Wien-Urlaubs aufgenommen hatte und es war

ihm ganz entfallen, daß er sie damals einem Papierkorb im Volksgarten

anvertraut hatte: Es waren

 

Dias, welche die Beine und vor allem wohlgeformte

Waden von jungen Frauen und 12- oder allenfalls 14jährigen Mädchen

zeigten, ideale Waden gewissermaßen oder Waden, die Lösekrugs

Idealvorstellung sehr weitgehend entsprachen... Der Studienrat (und Wadenmesser)

hatte damals, vor mehr als 20 Jahren Wien besucht, um dort einen alten

Kriegskameraden namens Alois Apfelauer aufzusuchen. Wie Lösekrug war

dieser Apfelauer ein erfahrener Musikpädagoge, erfahren insbesonders in

der Leitung von Knabenchören, mit denen er regelmäßige Auftritte während

der Wiener Festwochen und bei reichlich altbackenen

Advent-Veranstaltungen im Rathaus absolvierte, in der vagen Hoffnung,

dafür einstmals vom Bürgermeister oder Kulturstadtrat mit einer

silbernen Ehrennadel ausgezeichnet zu werden oder wenigstens einen

Trostpreis für irgendwelche Verdienste um das Schöne & Wahre zugesprochen

zu bekommen, aber nichts davon hatte sich bis dato erfüllt, würde sich

je erfüllen... Lösekrug und Apfelauer hatten einige Jahre gemeinsam in

russischer Kriegsgefangenschaft verbracht, ausreichend Zeit also,  Winnetous Erben

oder auch Witiko zu studieren, vor allem aber den sog. Gefangenenchor aus Verdis Nabucco

zu proben, der in dem windschiefen Barackenlager auf glanzvolle Weise intoniert worden war.

Zur Belohnung für die Sänger (und natürlich auch die Kapellmeister) gab es eimerweise

Krautsuppe, während im Quartier der Offiziere die Wodkaflaschen

kreisten und Gläser zerschellten. Aber wie gesagt: Lösekrug war nach Wien gereist,

hatte sich dort in der Pension Baltic einquartiert, die in den Zeiten des Kalten Kriegs 

vor allem von Agenten und Schachmeistern frequentiert wurde und unverzüglich ein Treffen mit

Apfelauer in einem Cafe in der Taborstraße vereinbart.

 Dort waren die beiden stundenlang bei Kaffee, Apfelstrudel 

und Wasser gesessen und hatten sich hauptsächlich über Knabenstimmen und die

dazugehörigen Knaben, den Verfall der Sitten und die ästhetische Verwahrlosung rundum,

sowie auch über die Wiener Klassik im engeren Sinn unterhalten und

Apfelauer war immer wieder darauf zurückgekommen, mit klebriger

Perseveranz, daß Idealismus heutzutage nicht anerkannt werde und man

keine Ehrennadeln bekomme, Undank sei der Welten Lohn, und daß im Radio

nur mehr Adriano Celentano gespielt würde,

 

mit seiner sog. Reibeisenstimme, aber kaum noch Vico Torriani, von

wertvollen Puccini- oder Roßini-Arien ganz zu schweigen, und er sprach vom

definitiv bevorstehenden Untergang des Abendlandes, von Adel und Untergang,

 und Lösekrug hatte halbherzig eingewandt, es würde vielleicht doch nicht ganz

so schlimm kommen, kein Untergang, nur eine gewisse Verflachung sei ganz ohne

Zweifel zu diagnostizieren, eine Verwässerung des kulturellen Erbes, eine

Nivellierung nach unten, eine Anpassung an den Geschmack der

ungebildeten oder auch verbildeten Massen, das sei eben die Kehrseite der Demokratie.

Für Lösekrug hatte es den Anschein, als ob sein Kollege in den verstrichenen

Jahrzehnten ziemlich läppisch,  ja sogar infantil geworden sei,

gewissermaßen an Substanz verloren hätte, intellektuell, aber auch was

die äußere - im übrigen mickrig und verhutzelt wirkende Erscheinung

betraf, jetzt wo er ohne Wehrmachts-Uniform in seinem grauen, etwas

schäbigen Anzug dasaß und unbeholfen mit der Kuchengabel hantierte, die

ihm sogar entglitt und auf den geölten Parketten landete, während er

immer wieder auf den Untergang des Abendlandes und die Problematik

von Adel und Untergang zu sprechen kam... (Der Oberkellner warf Apfelauer

einen mißbilligenden Blick zu und der  fürchtete für einen Augenblick, wegen

 seines Fehlverhaltens getadelt oder gar aus dem Lokal gewiesen zu werden. Es war

ja nicht auszuschließen, daß der Untergang des Abendlandes sich für den

Oberkellner vor allem in dem Umstand manifestierte, daß ältere Herren

nicht mehr schicklich mit Messer & Gabel umzugehen wußten.) Lösekrug

selber war immer noch eine überaus stattliche Kapellmeister-Erscheinung

und mehr als einmal war schon auf seine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit Oliver Hardy

hingewiesen worden, die immer noch vorhanden war - oder sich mit den

Jahren auf frappante Weise verstärkte, und die er unbewußt durch 

Tragen einer Melone, nicht im Alltag aber doch zu besonderen Anlässen,  unterstrich...

Am darauffolgenden Tag war Lösekrug auf den Spuren Salieris durch die Wiener Innenbezirke

gestreift, passierte andauernd alte Gemäuer, an denen schwere Marmor- und

Messingtafeln darauf hinweisen, daß hier Haydn, Mozart, Beethoven,

Schubert, Bruckner & Stolz gehaust hatten oder deren berühmte

Kompositionen entstanden waren... Aber kaum eine Spur Salieris war zu

entdecken & endlich hatte Lösekrug seinen Stadtplan konsultiert und zu

seiner Genugtuung bemerkt, daß es in einem Stadtteil namens Währing

sogar eine Salierigasse gab, die aber doch sehr entlegen zu sein

schien... und dann begab er sich nach Matzleinsdorf, um den Friedhof

aufzusuchen, wo das Grab seines Idols zu finden sein würde (oder sich irgendwann einmal

befunden hatte) , aber er hatte sich zwischen den Gleisen und Bahnsteigen des dortigen

Frachtenbahnhofs verirrt, es war ja noch die Zeit vor der Errichtung des Wiener Zentralbahnhofs,

 war zwischen den Stellwerken und ausrangierten Waggons herumgeklettert, inmitten

von Unkraut, das zwischen den Schwellen wucherte, und war dann von zwei übellaunigen

Bahnbediensteten aufgegriffen worden, die darauf verwiesen hatten, daß das Überqueren der

Gleise hier unzulässig, ja sogar ausdrücklich verboten sei und er sich

des Zuwiderhandelns schuldig gemacht hätte, somit die geltenden

Strafbestimmungen ohne weitere Anhörung seiner Vorbringungen auf ihn anzuwenden

wären und Lösekrug hatte darauf erwidert, er suche doch das Grab

Salieris, das unweit von hier sich befinden müsse und fuchtelte mit dem

Stadtplan, wobei er auch eigenartige

 

Bewegungen mit den Ellbogen machte,

die entfernt an den sog. Vogeltanz erinnerten und den Bahnbediensteten

höchst unpassend, wenn nicht sogar verdächtig vorkamen, und sie

ergriffen ihn und eskortierten ihn in ein Nebengebäude, wo er mehrere

Stunden festgehalten und wo seine Personaldokumente umständlich und

nicht sehr professionell überprüft wurden, während ringsum

Schnellbahnzüge in bemerkenswert kurzen Intervallen vorbeifuhren... und

so war es Lösekrug dann nicht mehr vergönnt, das Grab des Maestro zu

sehen. Man hatte dann aber doch von der Verhängung einer Strafe wegen

unbefugten Überschreitens der Gleise und zweckwidriger Benützung von

Eisenbahnanlagen Abstand genommen, gewissermaßen Gnade, oder genauer:

Gleichgültigkeit vor Recht ergehen lassen und den verwirrten Studienrat

unwirsch hinauskomplimentiert, denn es war mittlerweile 5 vor 12 und die

Bahnbediensteten wünschten Autofahrer Unterwegs und die Mittagsglocken

anzuhören und bei diesen vertrauten Klängen die von "Zielpunkt"

mitgebrachten Diskont-Knackwürste zu verspeisen, was sie für ihr

wohlerworbenes Recht hielten. Knackwürste ließen sie also ihre Pflichten

vergessen, solchen Opportunismus hatte Lösekrug in ganz anderen

Zusammenhängen auch schon verschiedentlich an Schäferhunden beobachtet.

 

Nach erfolgter Freilassung hatte Lösekrug sich in die Innere Stadt

verfügt, war dort planlos durch den Volksgarten spaziert, hatte sich

sogar auf einer Bank unweit der Meierei niedergelassen, denn es war ein

prächtiger Tag Anfang Juni und der Himmel so gut wie wolkenlos und manchmal

fixierten ihn Passanten mit stechendem oder womöglich wissendem Blick

und er fühlte sich eminent durchschaut... womöglich handelte es sich bei

den Leuten ringsum um verkleydete Policey, das war in Wien keine

Seltenheit, wie er aus Beethovens Conversationsheften wußte oder zu

wissen glaubte, aber soviel verkleydete Policey im Volksgarten, das kam

doch überraschend, und er gedachte sich deshalb von den Dias zu trennen,

die er in der Tasche seines blauen Rocks mit sich führte, um sie

jederzeit betrachten zu können, und deponierte sie in einem scheinbar

unbeobachteten Augenblick in einem der zylindrischen Abfallkörbe und

fühlte sich danach merkwürdig leicht und befreit, aber was er nicht

wissen konnte war, daß die stechenden und wissenden Blicke sich

keinesfalls auf irgendeinen Verdacht, sondern ausschließlich auf die

frappante Ahnlichkeit mit Oliver Hardy bezogen und mehrere Passanten den

Eindruck gewonnen hatten, es wäre ihnen ein zeitreisender Doppelgänger oder eine

Reinkarnation des gleichermaßen berühmten wie korpulenten Komikers

begegnet... von verkleydeter Policey konnte damals im Volksgarten kaum

mehr die Rede sein und schon gar nicht hätte sich in den 70-er-Jahren

ihr Verdacht oder auch nur ihre fokussierte Aufmerksamkeit auf einen

ältlichen Studienrat in Rock und Melone gerichtet, der sich nur ab und

zu und klammheimlich ein paar kleine süßlich-perverse Vergnügungen gönnte, die kaum

einen Schaden anzurichten schienen... private Laster tangierten die

Öffentlichkeit und ihre Repräsentanten in diesen Tagen kaum...

 

& damals, als Paul Lösekrug das Schulgebäude in der niedersächsischen

Kleinstadt D***olz verlassen hatte, waren die Schüler nach Beendigung des

Unterrichts in kleinen Grüppchen herumgestanden, vor dem Portal des

Diskont-Supermarkts und bei der Bushaltestelle und vorne am Kiosk,

hatten wie so oft Sinalco getrunken und Cremeschnitten oder auch Bienenstich gemampft

und an diesem Tag von nichts anderem gesprochen als dem bevorstehenden Konzert

von MC5 in Vechta, und daß sie allesamt dort hin fahren würden, und Lösekrug hatte

sofort erwogen, es ihnen gleich zu tun, weil er doch annehmen mußte, daß

auch Tork (und sein Bruder Falk) sich dieses Konzert nicht entgehen

lassen würden.... und tags darauf war der  Studienrat mit der lindgrünen

Pomade nach Vechta angereist und hatte das wüste Konzert der abgefuckten

Kapelle, oder „band“, wie man wohl dazu sagte, rund um den Sänger Bob Tyner

mitangehört, das sich mit Salieri kaum vergleichen ließ, aber jede Musik

war besser als gar keine Musik, dachte Lösekrug, Musik an sich ist die adäquate

Form des Umgangs mit dem Mangel, mit dem Verlust, der symbolischen oder auch

realen Kastration, nur die Form der Klage und das Elegische sind

dem Kläglichen, der Kläglichkeit der Welt angemessen, ihrer Unvollkommenheit –

der Klang als Klage als wohlgesetzte und vollendete Klage versteht sich, aber Tork

war nicht da gewesen, aus unerfindlichen Gründen, einmal mehr hatte sich

für Lösekrug die Unvollkommenheit der Welt überdeutlich erwiesen, und

der Studienrat hatte das Konzert in der Pause vorzeitig verlassen und

sich in eine nahegelegene Wirtschaft verfügt, wo er mehrere Gläser

Aquavit getrunken hatte, aber Lachs war dort freilich nicht erhältlich

und Lösekrug hatte sich mit einer

 

Portion Sülze begnügen müssen und

dabei über mögliche oder sogar wahrscheinliche Ursachen von Torks

Fernbleiben nachgegrübelt. Vielleicht hatte es sich um eine

Unpäßlichkeit gehandelt, womöglich eine Magenverstimung, das war bei

muskulösen Knaben, die zu übermäßigem, nachgerade hemmungslosem

Cremeschnittengenuß neigten, durchaus nicht auszuschließen. Oder Tork

hatte sich wieder einmal von den Laubsägearbeiten nicht losreißen

können, mit denen er so viele Nachmittage zu verbringen pflegte,

durchaus altersgemäß und lobenswert im übrigen, oder er war beim

Indianerspiel von den übrigen Knaben an einen improvisierten Marterpfahl

gebunden worden, hatte sich nicht zeitgerecht befreien können und

deshalb des Konzert versäumt. Oder er hatte es ganz einfach vorgezogen,

zu Hause bleiben und seine Vicky Leandros-Schallplatten anzuhören,

selbst das war mindestens denkbar, wenn auch nicht unbedingt wahrscheinlich.

 

& dann wurde überhaupt die Sendung Autofahrer Unterwegs eingestellt & es

war Essig mit dem 12-Uhr-Glockengeläut aus Greifenburg und Trofaiach,

aus Rapottenstein oder St. Andra/Wördern, aber mehr und mehr bestanden

die Rundfunkprogramme aus Geisterfahrermeldungen und -warnungen, aus

Schiejok und Seitenblicken. Auch die Sendung "Meister der klassischen

Operette" war irgendwann aus den Programmen verschwunden, von "Wer

bastelt mit?" ganz zu schweigen. (Kürbisse aushöhlen, Laubsägearbeiten,

einen Drachen basteln oder Dekorationen für den Advent, aus Buntpapier

und Alu-Folie...) Dagegen mangelte es nicht an Lifestyle-, Wellness- und

anderen Zeitgeist-Magazinen, die bevorzugt und in fast epischer Breite

über amerikanisches oder fernöstliches Brauchtum und neueste Trends im Bereich der

Extremsportarten, der Esoterik, der sog. Formel 1, über Nordic Walking und

Sofa Banking, Milleniums-Clubbings und exklusive nordafrikanische Ferienclubs

berichteten, in denen vorzeitig pensionierte Fremdenlegionäre als Animateure

fungierten. Kürbisse brauchen im allgemeinen gute fette Erde, aushöhlen

mit einem dafür geeigneten Löffel... eine Kerze hineintun oder auch: als

Sparbüchse nutzbar gemacht, erinnerst du dich an den Sparefroh und seine bizarr geformte

Kopfbedeckung; oder ganz einfach: in dekorativer Absicht placieren, irgendwo

im rustikalen living room, wo Jagdtrophäen oder gar

Wagenräder die Wände zieren... Country Life im Dschungel der

Großstadt... & einen schönen Abend noch, wünschte der levantinische Wirt

beim Verlassen des Lokals

 

& zur gleichen Zeit in und um Greifenburg: Äcker, denen man

die Überdüngung ansehen kann: Reichlich Krenwurzen

gedeihen dort & die umliegenden Häuser haben meterdicke Mauern, aus dem

späten 18. Jahrhundert, fast wie die Kathedrale von Durham oder alte

Wehrkirchen im Grenzland. Landvermesser und ihre Assistenten in

bordeauxfarbenen Sakkos (oder auch in regional-bräunlicher Tracht fixieren

 trigonometrische  Punkte & müssen sich hernach mit ihren Auftraggebern über die exakten,

 aber doch unerwünschten Resultate ihrer Messungen herumstreiten und dann werden

doch wieder bei Nacht & Nebel die Grenzsteine versetzt, auch das altes

Brauchtum in dieser Region, Ferlach die Stadt der Büchsenmacher & ihrer

handwerklichen Kunst, weshalb dort Streitigkeiten immer auch unterm

Eindruck allgemeiner Bewaffnung und mittels entsprechender Drohungen

ausgetragen werden, gleich gibts Löcher in die Figur & das Honorar des

Landvermessers bleibt des öfteren unbeglichen oder muß auf dem Weg der

Zwangsvollstreckung oder auch: durch Einsatz privater Zwangsmittel

beigetrieben werden. Oder es kommt überhaupt zu streitigen Verfahren und

es wird fehlerhafte Messung behauptet. Gerichtlich beeidete

Sachverständige werden beigezogen und erstellen sündteure Gutachten,

präsentieren die Kostennote mit öligem Grinsen. Rauhe Sitten & in

Melrose Place war die Rede von einem Arzt, der ein Faible für Frauen mit

extrem flachen EEG-Kurven hatte und sich regelmäßig und ohne viel

Feder-Lesens in Koma-Patientinnen verliebte. Immer öfter wurde versucht,

die Bewegungen und Turbulenzen auf den internationalen Finanzmärkten mit

Konzepten und Axiomen der Chaosforschung zu beschreiben und zu erklären, mit

wechselndem Erfolg.

 

Und dann noch ein lettre en souffrance, wenngleich bekanntlich davon auszugehen

ist, daß grundsätzlich jeder Brief seinen Adressaten erreicht und jede

abgefeuerte Kugel ihr Ziel: Das Offert einer portugiesischen

Handelsgesellschaft, die vornehmlich mit Kork & Glas handelte...

Tantalus konnte sich nicht genug wundern, als er des Schriftstücks

ansichtig wurde, das in diesem Augenblick seinen Empfänger erreichte.

 

11.11.1999

16.11.1999

16.09.2010

zu den "Pyramiden"

       Gerhard Hanak :

Jede Seite möchte ich überschreiben mit dem Wort Gedicht

Among The Living

Collagen 1. qualitaet

 

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